Die Strafverteidigung hat sich in den letzten Jahren mit zahlreichen neuen Herausforderungen konfrontiert gesehen, sei es durch die zunehmende Digitalisierung, neue gesetzliche Regelungen oder gesellschaftliche Entwicklungen. Strafverteidiger müssen immer mehr Fachwissen aus verschiedenen Disziplinen (IT, Wirtschaft, Menschenrechte) mitbringen, um erfolgreich zu verteidigen. Zudem wird es immer wichtiger, auch innovative und unkonventionelle Verteidigungsstrategien zu entwickeln, um die Rechte der Mandanten zu schützen und die Ermittlungen oder die Urteilsfindung zu hinterfragen.
1. Neuerungen im Strafprozessrecht
- Reform der Strafprozessordnung (StPO): In den letzten Jahren gab es mehrere Reformen der Strafprozessordnung, die darauf abzielen, den Strafprozess effizienter und schneller zu gestalten, aber auch den Schutz der Rechte der Angeklagten zu stärken. Ein besonders bemerkenswerter Punkt war die Einführung von neuen Regelungen zur elektronischen Kommunikation in Strafverfahren. Dies betrifft sowohl die Übermittlung von Dokumenten als auch die Kommunikation zwischen Gericht und Verteidigung.
- Verlängerung der Höchstfrist für Untersuchungshaft: Die Fristen für die Untersuchungshaft wurden vereinzelt verlängert, insbesondere bei schweren Straftaten. Verteidiger müssen bei der Anfechtung von Haftanordnungen besonders aufmerksam sein, da sich die Anforderungen an die Haftprüfung durch Gericht und Staatsanwaltschaft verschärft haben.
- Wegfall der „Beweismittelbeteiligung“ im Ermittlungsverfahren: Für die Verteidigung in Strafverfahren wurden neue Möglichkeiten geschaffen, frühzeitig Beweismittel zu sichern und ein größeres Mitspracherecht bei der Beweiserhebung zu haben. Die Verteidigung kann z. B. auch in den frühen Phasen des Verfahrens Beweisanträge stellen und Anträge zur Zeugenvernehmung stellen.
2. Verteidigungsstrategien und Techniken
- Verteidigung im Bereich der digitalen Beweismittel: Mit der Zunahme der Digitalisierung sind digitale Beweismittel (z. B. Daten aus Smartphones, Computern und sozialen Netzwerken) ein immer wichtigerer Bestandteil von Strafverfahren. Strafverteidiger müssen verstärkt die rechtlichen Rahmenbedingungen der Datenverwertung und -sicherung kennen, um rechtswidrig erlangte Beweismittel oder Verstöße gegen Datenschutzvorgaben zu erkennen. Verteidigungsteams spezialisieren sich zunehmend auf IT-Forensik, um Beweismittel in digitalen Systemen zu überprüfen und gegebenenfalls anzufechten.
- Verteidigung gegen Cyberkriminalität: Strafverfahren wegen Cyberkriminalität (z. B. Hacking, Betrug im Internet, Phishing) stellen neue Herausforderungen an die Strafverteidigung. Verteidiger müssen sich intensiv mit den technischen Aspekten und der rechtlichen Einstufung solcher Taten auseinandersetzen, da oft komplexe technische und internationale Aspekte involviert sind.
- Verteidigung bei Wirtschaftsstrafrecht: Besonders im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts gibt es vermehrt komplexe Fälle, bei denen es darum geht, die wirtschaftlichen und juristischen Grundlagen der Tatbestände zu hinterfragen (z. B. in Fällen von Steuerhinterziehung, Bilanzdelikten oder Korruption). In diesen Fällen spielt die Fachkunde des Verteidigers eine entscheidende Rolle, um sowohl die rechtliche Bewertung als auch die wirtschaftlichen Hintergründe zu entkräften.
- Opferschutz und Verteidigung: Ein immer wichtiger werdender Bereich ist der Opferschutz, insbesondere im Strafrecht bei sexualisierten Straftaten oder häuslicher Gewalt. Hier sehen Strafverteidiger ihre Rolle nicht nur in der Verteidigung des Mandanten, sondern auch in der Wahrung der Rechte des Opfers. Ein zentrales Thema ist auch die Rechtmäßigkeit von Zeugenaussagen, etwa bei sogenannten Opfer-Aussagen oder Aussagen von Kindern.
3. Veränderungen im Strafrecht und neue Tatbestände
- Gesetzesänderungen und neue Straftatbestände: Es gibt immer wieder neue Tatbestände, die das Strafrecht betreffen und die Verteidigung vor neue Herausforderungen stellen. Ein Beispiel ist die Novellierung des Gesetzes zur Bekämpfung der Hasskriminalität, das im Jahr 2021 verabschiedet wurde und die Strafbarkeit von Hassreden und -botschaften im Internet ausweitet. Verstöße gegen dieses Gesetz stellen Strafverteidiger vor die Herausforderung, juristisch differenziert darzulegen, dass eine strafbare Äußerung nicht vorliegt (z. B. durch das Argument der Meinungsfreiheit).
- Strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen (Corporate Criminal Liability): In Deutschland gibt es Bestrebungen, die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen auszubauen. Es wird diskutiert, ob Unternehmen für bestimmte Straftaten wie Korruption oder Umweltverstöße noch stärker zur Rechenschaft gezogen werden können. Strafverteidiger in solchen Fällen müssen sich nicht nur mit den individuellen Tatbeiträgen der Geschäftsführer oder Angestellten befassen, sondern auch mit der rechtlichen Verantwortung der gesamten Unternehmensstruktur.
4. Strafverteidigung in Zeiten von politischen und sozialen Spannungen
- Politische Strafverfahren: Besonders in politisch aufgeladenen Fällen, wie bei Verfahren gegen Aktivisten oder Personen im Kontext von Protestbewegungen (z. B. „Fridays for Future“, Anti-Corona-Demos), stehen Strafverteidiger oft vor der Herausforderung, zwischen politischer Meinungsäußerung und strafbaren Handlungen zu differenzieren. Hier ist häufig eine enge Zusammenarbeit mit politischen Organisationen oder Menschenrechtsanwälten erforderlich.
- Rassismus und Diskriminierung: Strafverteidiger müssen sich zunehmend mit Fällen auseinandersetzen, in denen rassistische, diskriminierende oder antisemitische Motive eine Rolle spielen, sei es bei Hassverbrechen oder im Kontext von Vorurteilen und Stereotypen in den Ermittlungen und der Urteilsfindung.
5. Rechtsfragen rund um Haft und Strafe
- Verlängerung der Untersuchungshaft und Haftbedingungen: In vielen Verfahren, vor allem bei schweren Straftaten, wird die Untersuchungshaft verhängt. Die rechtlichen Anforderungen für die Anordnung und die Dauer der Untersuchungshaft wurden verschärft. Verteidiger müssen regelmäßig überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Haft weiterhin bestehen und können Haftbeschwerden einlegen.
- Strafvollzug und Resozialisierung: Im Bereich des Strafvollzugs gibt es verstärkte Bestrebungen, den Fokus auf Resozialisierung und Wiedereingliederung von Straftätern zu legen. Strafverteidiger beraten zunehmend auch zu Fragen der Strafaussetzung zur Bewährung oder der Haftentlassung.
6. Verteidigung im Bereich der Drogenkriminalität
- Verstärkte Strafverfolgung von Drogenvergehen: Besonders in den letzten Jahren gab es verstärkte Ermittlungen und Verfahren gegen den illegalen Drogenhandel und die Herstellung von Drogen. Die Verteidigung muss in diesen Fällen die rechtliche Einordnung des Drogenhandels und -besitzes sorgfältig prüfen, insbesondere in Bezug auf die Menge und die Absicht des Angeklagten (Eigenbedarf vs. Handel).